Die Verwendung von Fachbegriffen in den Bereichen Sprache, Lernen und Bildung ist oft verwirrend und im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte kommen stets neue Begriffe hinzu. Auf der Sprache-Spiel-Natur-Seite findet man daher kleinere Artikel, die ähnliche Begriffe voneinander abgrenzen und die historische Entwicklung der Begriffsverwendung beschreiben. In diesem Artikel geht es um die Termini „Sprachentwicklung„, „Spracherwerb“ und „Sprach(en)lernen„. Dieser Artikel ist eine gute Ergänzung zu den auf der Sprache-Spiel-Natur-Seite erschienenen Beiträgen, Link- und Literaturlisten zu den Themen Spracherwerb und Spracherwerbsforschung.
Die drei Begriffe „Sprachentwicklung“, „Spracherwerb“ und „Sprach(en)lernen“ werden zwar oft synonym verwendet, unterscheiden sich aber in drei Hinsichten:
- Sprachentwicklung ist ein weiterer Begriff als „Spracherwerb“ und „Sprach(en)lernen“ und zeigt eine andere historische Entwicklung.
- Der Gegensatz zwischen den Begriffen „Spracherwerb“ und „Sprach(en)lernen“ ist verbunden mit der Skinner/Chomsky-Debatte um die Rolle von Input und genetischen Anlagen.
- In der aktuellen Diskussion zum (Zweit-)Spracherwerb verwendet man die beiden Begriffe „Spracherwerb“ und „Sprach(en)lernen“, um zwei Typen von Lernprozessen voneinander zu unterscheiden.
„Sprachentwicklung“ vs. „Spracherwerb“ und „Sprach(en)lernen“
Von den drei Begriffen „Sprachentwicklung“, „Spracherwerb“ und „Sprach(en)lernen“ hat „Sprachentwicklung“ den breitesten Anwendungsbereich: Laut Duden kann sich dieser Terminus nämlich sowohl auf die sprachliche Entwicklung von Individuen als auch auf natürliche oder durch Sprachpolitik hervorgebrachte Veränderungen des Sprachsystems beziehen. „Spracherwerb“ und „Sprach(en)lernen“ werden hingegen nur auf die Individualentwicklung von Menschen angewendet.
Wie die Graphik zu Beginn dieses Artikels verdeutlicht, gibt es darüber hinaus Verschiebungen in der Verwendungshäufigkeit der unterschiedlichen Begriffe. Diese Abbildung wurde mit Hilfe des Google Ngram Viewer auf der Basis der in Google Books erfassten Bücher erstellt. Dabei wurde nicht nur nach den Zitierformen dieser Begriffe gesucht, sondern nach all ihren Formen (z.B. „Spracherwerb“ und „Spracherwerbs“). Die Unterschiede zwischen den einzelnen Häufigkeitskurven, die sich hier zeigen, sind relativ deutlich. Außerdem entsprechen sie bekannten Veränderungen der wissenschaftlichen Diskussion über Sprache und Lernen.
In der obigen Graphik kann man auch erkennen, dass der Begriff „Sprachentwicklung“ bereits im frühen 20. Jahrhundert verwendet wurde. Um 1900 herum führte das generelle Interesse an Entwicklungsprozessen zur Etablierung von Evolutionstheorie, Entwicklungspsychologie und Spracherwerbsforschung. Dieses Interesse an Entwicklungsvorgängen führte auch zu den ersten Tagebuchsstudien zur sprachlichen und kognitiven Entwicklung von Kindern. Der Begriff „Sprachentwicklung“ blieb bis heute aktuell. Mittlerweile steht er aber in der Diskussion um die Aneignung von Sprachen durch Kinder und Erwachsene neben anderen Termini.
„Spracherwerb“ vs. „Sprach(en)lernen“ und die Skinner/Chomsky-Debatte
Die Graphik am Anfang dieses Artikels zeigt auch, dass der Begriff „Spracherwerb“ erst um 1960 herum häufiger verwendet wurde, mit einem starken Anstieg in den 1960er Jahren. In dieser Zeit entwickelte Noam Chomsky eine einflussreiche Gegenposition zu B.F. Skinners behavioristischer Lerntheorie, die zuvor die Psychologie dominiert hatte.
Skinner zufolge lernen wir Sprache, indem wir andere imitieren. Außerdem stellen wir assoziative Verknüpfungen her, z.B. zwischen der lautlichen Form von Wörtern und den Objekten oder Handlungen, auf die sich diese Wörter beziehen. Diese Verknüpfungen werden verstärkt, wenn andere unsere zielsprachlichen Äußerungen positiv bestätigen, indem sie uns loben, gestellte Fragen beantworten oder die Wünsche erfüllen, die wir geäußert haben. Die assoziativen Verknüpfungen werden geschwächt und abgebaut, wenn sie zu nicht-zielsprachlichen Äußerungen führen, die dann von anderen korrigiert oder ignoriert werden.
Skinner betrachtete nur generelle kognitive Fähigkeiten als angeboren, z.B. die Fähigkeit zur Imitation und die Fähigkeit, assoziative Verknüpfungen herzustellen. Spezielle genetische Anlagen für den Spracherwerb nahm er nicht an. Chomsky betonte hingegen in seinem „nativistischen“ Ansatz die Rolle spezifischer genetischer Anlagen für den Spracherwerb.
Um sich von Skinners Theorie des „Verbal Learning“ (Sprachlernen) abzugrenzen, verwendete Chomsky dabei statt des von Skinner bevorzugten Begriffs „learning“ (Lernen) den Begriff „acquisition“ (Erwerb). Mit der zunehmenden Verbreitung des nativistischen Ansatzes in der Spracherwerbsforschung wurde auch die deutsche Entsprechung von „language acquisition“, d.h. der Terminus „Spracherwerb“, häufiger verwendet.
„Spracherwerb“ vs. „Sprach(en)lernen“ und die Unterscheidung von verschiedenen Lernertypen bzw. Lernprozessen
Die Unterscheidung zwischen „Spracherwerb“ und „Sprach(en)lernen“ spielt nicht nur in der Skinner/Chomsky-Debatte eine Rolle. Eine weitere Interpretation dieses Gegensatzes ergab sich aus den innereuropäischen Migrationsbewegungen der 1970er Jahre und der Entstehung der EU. In den Studien zum Deutschlernen von „Gastarbeitern“ rückte das Lernen von Zweitsprachen ins Bewusstsein und wurde zu einem zentralen Thema der Spracherwerbsforschung. Um das Jahr 2000 herum taucht der Begriff des Sprach(en)lernens dann auch vermehrt im Zusammenhang mit EU-Projekten auf.
In solchen Projekten verglich und kontrastierte man häufig den scheinbar mühelosen und unbewussten Erstspracherwerb von Kindern mit dem Sprach(en)lernen von Erwachsenen, das bewusster und oft im Schulkontext erfolgte. So bildete sich ein neuer Gegensatz zwischen den Begriffen „Spracherwerb“ und „Sprach(en)lernen“ heraus, der nicht mehr primär an die Chomsky/Skinner-Debatte gebunden war.
Diese Begriffsopposition findet man z.B. im Wikipedia-Artikel Spracherwerb: „Spracherwerb kontrastiert mit dem Sprachenlernen wie folgt: Erwerb bedeutet in der Psychologie unbewusste und implizite Vorgänge in natürlicher Umgebung. Erwerb findet also durch alltägliche soziale Kontakte statt, etwa „beim Einkaufen“ oder „auf der Straße“. Beispiel: Immigranten, welche die Sprache im Zielland erwerben. Sprachenlernen hingegen erfolgt bewusst, ist explizit und wird gesteuert, findet also mit Lehrern innerhalb von Institutionen wie der Schule statt.“
Wie dieses Zitat zeigt, wird in der aktuellen (Zweit-)Spracherwerbsforschung oft eine Unterscheidung zwischen ungesteuertem und unbewusstem Spracherwerb und gesteuertem expliziten Sprachenlernen gemacht. Dabei geht man bei der typischen kindlichen einsprachigen Sprachentwicklung von implizitem Erwerb aus. Bei Erwachsenen unterscheidet man hingegen zwischen implizitem ungesteuertem Zweitspracherwerb auf der einen Seite und gesteuertem Zweitsprachlernen mit explizitem Unterricht und bewussten Anstrengungen auf der anderen Seite.
Eine solche Unterscheidung findet man auch auf der Webseite des Goethe-Instituts, in einer Diskussion zur Beziehung zwischen den Begriffen „Spracherwerb“ und „Sprachlernen“. Hier wird diese Unterscheidung aber bereits kritisch hinterfragt: „In der Forschung zu Lernprozessen wird immer wieder zwischen „Erwerb“ und „Lernen“ unterschieden. Fremdsprachenlernen steht dabei häufig für die gesteuerte und explizite Aneignung einer Sprache in institutionellen Kontexten. Zumeist ist dies der auf ein Curriculum und didaktisch-methodischer Konzepte gestützte Unterricht, der in der Regel mit weiteren Lernorten vernetzt ist (vgl. Ohm: Schauplätze des Deutschlernens). Unter Zweitspracherwerb wird demgegenüber die ungesteuerte und implizite Aneignung einer Sprache unter den Bedingungen und Möglichkeiten von Alltagkommunikation im Zielsprachenland verstanden. Diese strikte Trennung zwischen Lernen und Erwerb kann nach heutiger Auffassung nicht aufrechterhalten werden.
So gibt es einerseits Hinweise darauf, dass gelerntes („explizites“) Wissen durch Anwendung zu erworbenem („implizitem“, also nicht bewusst abrufbarem) Wissen werden kann und danach ohne „kognitive Anstrengung“ in die Sprachproduktion einfließt. Anderseits gehen einige Forschungsansätze davon aus, dass implizites Wissen durch Analyse und Reflexion zu explizitem und bewusst abrufbarem Regelwissen werden kann. Dies deckt sich mit der im Fremdsprachenunterricht heute vielfach üblichen Praxis, „kognitivierende“, also auf sprachliche Formen und Regeln fokussierende Verfahren einzusetzen.“
Fazit
Zusammengefasst lässt sich somit festhalten, dass der Begriff „Sprachentwicklung“ ein genereller Begriff ist, der sowohl für die historische Entwicklung von Sprachen als auch für die individuelle Sprachaneignung verwendet wird. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Entwicklungsprozess. Das „wie“ des Lernens und seine Basis werden durch die Verwendung des Begriffs nicht eingegrenzt. Dies ist anders bei den Termini „Spracherwerb“ und „Sprachlernen“. Diese beziehen sich stets auf das Individuum. Dabei wird „Spracherwerb“ einerseits in nativistischen Ansätzen zur Abgrenzung gegen behavioristische Modelle des Lernens eingesetzt. Andererseits unterscheidet man in der aktuellen (Zweit-) Spracherwerbsforschung oft zwischen implizitem ungesteuertem Spracherwerb und gesteuertem Sprach(en)lernen mit bewusster Anstrengung und dem Lernen von explizitem Regeln, z.B. in Unterrichtssituationen.
Mein persönlicher Sprachspinat-Tipp
Für die Graphik in diesem Artikel habe ich Google Ngram Viewer verwendet. Auf dieser Webseite kann man Wörter oder Phrasen eingeben und sich kostenlos und ohne Registrierung anzeigen lassen, wie sich die Verwendungshäufigkeit dieser Wörtern bzw. Phrasen im gewählten Zeitraum entwickelt hat. Die Grundlage sind dabei Google Books. Für Deutsch sind derzeit Bücher bis 2008 erfasst. Die Rohdaten sowie die durch Abfragen entstandenen Datensätze lassen sich herunterladen. Die Graphiken können auch in Webseiten eingebunden werden.
Bei der Bewertung des Google Ngram Viewer ist zu berücksichtigen, dass das Google-Book-Korpus verhältnismäßig viel wissenschaftliche Literatur enthält. Damit ist es nicht wirklich repräsentativ für die Alltagssprache. Für Graphiken zur Verwendung von Fachtermini sind Google Books dafür umso besser geeignet. Für detailliertere Analysen gibt es eine kurze Einführung auf der Webseite des Google Ngram Viewers sowie zahlreiche Publikationen, in denen methodische Aspekte beim Einsatzes des Google Ngram Viewers diskutiert werden.
Auf dem Sprachspinatblog findet man regelmäßig neue Artikel, Linklisten und Lesetipps zur Spracherwebsforschung – mit dem Tag „Spracherwerbsforschung„. Einen guten Einstieg bieten Beiträge mit dem Tag „Spracherwerbsforschung-Einführung„.